Wie kann häusliche Gewalt früh erkannt, wirksam verhindert und betroffenen Familien konkret geholfen werden? Diese Frage stand im Mittelpunkt des Fachtags zur familienorientierten Prävention häuslicher Gewalt an der Hochschule für öffentliche Verwaltung in Kehl. Rund 200 Fachkräfte und Wissenschaftler*innen kamen dafür am 27. Juni 2025 zusammen, um sich auszutauschen und gemeinsam Lösungsansätze zu diskutieren.
Die Veranstaltung fand im Rahmen eines Forschungsprojekts statt, das von der Baden-Württemberg Stiftung und der Stiftung Präventive Jugendhilfe gefördert wird. Organisiert wurde der Fachtag von der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (KJPPP) am Universitätsklinikum Ulm (UKU).
Nach den Grußworten von Hochschulrektor Prof. Dr. Joachim Beck und Theresia Bauer, Geschäftsführerin der Baden-Württemberg Stiftung, analysierte der erste Teil der Veranstaltung vor allem den „Status quo“ und widmete sich der multiperspektivischen Bestandsaufnahme zur Forderung von Prävention interpersoneller Gewalt.
Prof. Dr. Jörg M. Fegert, Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am UKU, führte zu Beginn in die Thematik ein und sprach über Häufigkeiten, Folgen und den Mangel an Prävention. „Häusliche Gewalt ist ein drängendes gesellschaftliches Problem, das nicht nur die unmittelbaren Opfer betrifft, sondern auch tiefgreifende Auswirkungen auf die gesamte Familie haben kann – insbesondere auf Kinder, die häufig in einem Klima der Gewalt aufwachsen“, hob Prof. Dr. Fegert hervor.
Anschließend referierte Prof. Dr. Jan Kepert (Hochschule für Öffentliche Verwaltung, Kehl) zu den gesetzlichen Rahmenbedingungen für Kinderschutzverfahren. Die große Herausforderung bestehe vor allem darin, dass das Jugendamt als „Hellseher“ agieren müsse, da „die Jugendhilfe ausschließlich eine in die Zukunft gerichtete Gefährdungseinschätzung vornimmt“, betonte Prof. Dr. Kepert.
Einen Blick über die nahe Landesgrenze warf Prof. MD PhD Carmen Schröder von der Universität Straßburg. In ihrem Vortrag skizzierte sie die Entwicklung der Traumatherapie-Ausbildung in Frankreich und stellte das sogenannte Femizid-Protokoll vor, welches landesweite Standards für den Umgang mit Kindern im Anschluss an den gewaltsamen Tod der Mutter durch den Partner oder andere Familienmitglieder bietet. Ein vergleichbares standardisiertes Verfahren fehlt bislang in Deutschland.
Prof. Dr. Barbara Kavemann (Sozialwissenschaftliches Forschungsinstitut zu Geschlechterfragen SoFFI/SOCLES, Berlin) stellte zentrale Ergebnisse der „Bedarfsanalyse zur Prävention geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen und von häuslicher Gewalt“ vor. Dabei wurden zwei zentrale Erwartungen seitens der Fachkräfte an die Politik deutlich: Es braucht konsequente Schutzmaßnahmen und eine verlässliche rechtliche Absicherung für Unterstützung und Hilfe.
Die zweite Programmhälfte widmete sich dem Thema „Zukunft – Neue Wege der Prävention und Intervention häuslicher Gewalt und das Potential vernetzter Versorgung“. Prof. Dr. Ute Ziegenhain, Leiterin der Sektion „Pädagogik, Jugendhilfe, Bindungsforschung und Entwicklungspsychopathologie“ an der KJPPP des UKU, stellte das Projekt „Familienorientierte Prävention Häuslicher Gewalt“ vor. Dieses verfolgt einen zweigleisigen Ansatz: Zum einen wird eine aufsuchende Frühintervention in Familien, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, an der Institutsambulanz der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie Ulm erprobt. Zum anderen werden in Kooperation mit den interdisziplinären Hilfesystemen in Ulm und im Alb-Donau-Kreis fallübergreifende Kooperations- und Vernetzungsstrukturen modellhaft weiterentwickelt. Die Erziehungsberatungsstellen übernehmen dabei eine zentrale Rolle als „Knotenpunkte“ im Netzwerk. Sie sind zuständig für die diagnostische Abklärung, die Versorgung der Betroffenen sowie bei Bedarf die Vermittlung in weiterführende Hilfen und Leistungen.
Auch im zweiten Teil des Fachtages gab es länderübergreifende Impulse: PD Dr. Marc Schmid (Universitäre Psychiatrische Kliniken und Universität, Basel) referierte zu den Grundprinzipien und der Anwendung des MST-Kinderschutzes – mittels Multisystemischer Therapie (MST). In hochbelasteten Familien erreiche die MST-CAN-Therapie (Multisystemic Therapy for Child Abuse and Neglect) Erfolge, wo andere ambulante Hilfen nicht ausreichen. Prof. Dr. Isabel Böge (Medizinische Universität, Graz) stellte im Anschluss die aufsuchende Krankenbehandlung im Kontext häuslicher Gewalt vor. Dieser Ansatz zeige insbesondere dann Wirkung, wenn häusliche Gewalt aktiv angesprochen, Verdachtsfällen gezielt nachgegangen und eine enge Zusammenarbeit mit den Jugendämtern sichergestellt wird.
Abschließend fand eine Podiumsdiskussion mit Expert*innen aus den Bereichen Kinder- und Jugendhilfe, Medizin, Sozialforschung, Frauenunterstützung, Kinderschutz, Psychotherapie, Täterarbeit und Erziehungsberatung statt. Während des Abendprogrammes bot sich zudem Gelegenheit zum internationalen Austausch – etwa mit Vertreter*innen der Research Academy des ESCAP-Kongresses aus Straßburg.
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Über das Projekt
Der Fachtag ist Teil des lernenden Modellprojektes „Familienorientierte Prävention Häuslicher Gewalt“, welches von Juni 2024bis Juni 2026, unter der Leitung Prof. Dr. Jörg M. Fegert an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm, durchgeführt wird. Das Projekt wird von der Baden-Württemberg Stiftung und der Stiftung Präventive Jugendhilfe gefördert.
Kontakt
E-Mail: hg.kjp@uniklinik-ulm.de