Der Ulmer Virologe Professor Frank Kirchhoff wird vom Europäischen Forschungsrat mit einem ERC Advanced Grant ausgezeichnet. Über die nächsten fünf Jahre erhält der Wissenschaftler aus dem Universitätsklinikum Ulm 2,3 Millionen Euro, um bisher unbekannte körpereigene antivirale Abwehrmechanismen aufzudecken. Dafür sollen sogenannte „Verräter-Viren“ erzeugt und eingesetzt werden, die den Forschenden anzeigen, welche zellulären Faktoren diese am effektivsten hemmen. Grundlage hierfür bildet eine Kombination aus modifizierten HI-Viren mit der CRISPR/Cas9-Technologie.
Viren sind Meister der Anpassung. Sie nutzen mit enormer Effizienz das evolutionäre Prinzip von Versuch und Irrtum. „Was pandemische Viren wie HIV-1 und SARS-CoV-2 so erfolgreich macht, ist ihre rasche Vermehrung und hohe Variabilität und die damit verbundene Fähigkeit, die Immunabwehr des Menschen zu unterlaufen“, erklärt Professor Frank Kirchhoff, Leiter des Instituts für Molekulare Virologie am Universitätsklinikum Ulm. Dem Ulmer Virologen ist es nach 2012 zum zweiten Mal gelungen, einen der hochbegehrten ERC Advanced Grants einzuwerben. Die millionenschwere Förderung – für die nächsten fünf Jahre stehen 2,3 Millionen Euro zur Verfügung – soll helfen, bisher unbekannte, körpereigene antivirale Abwehrmechanismen systematisch aufzudecken. Unterstützt wurde Kirchhoff bei seinem zweiten Antrag von Caterina Prelli Bozzo, Alexandre Laliberté und Dr. Konstantin Sparrer, die ebenfalls am Institut für Molekulare Virologie forschen.
Eine Schlüsselrolle bei der Abwehr von Viren spielt ein spezieller Teil des menschlichen Immunsystems, die sogenannte angeborene Immunantwort. Diese umfasst eine Vielzahl von zellulären Proteinen, deren Aktivierung in der Regel effektiv vor viralen Infektionen schützt. Diese körpereigenen, antiviral wirkenden Proteine zeigen eine enorme strukturelle und funktionelle Vielfalt. Besonders „erfolgreiche“ Viren, wie HIV und SARS-CoV-2, können viele dieser Abwehrmechanismen jedoch umgehen oder ausschalten.
Welche Faktoren im Falle eines viralen Angriffs weiterhin wirksam bleiben und damit in den meisten Fällen schwere Infektionen verhindern, ist aber noch wenig verstanden. Im Rahmen des ERC-Projektes „Traitor-virus-guided discovery of novel antiviral factors“ wollen die Ulmer Forschenden nun systematisch und umfassend aufklären, welche körpereigene Proteine virale Erreger – inklusive pandemischer Pathogene – effektiv abschwächen können. Der wissenschaftliche Ansatz hierzu ist neu und vielversprechend. Kirchhoff und seinen Mitarbeitenden ist es bereits gelungen, HI-Viren mit Hilfe spezifischer „Genscheren“ wie CRISPR/Cas 9 so auszustatten, dass diese ihre zellulären „Gegner“ zwar ausschalten können, jedoch gleichzeitig verraten, wer diese Gegner überhaupt sind. „Wir machen sie damit also zu ,Verräter-Viren‘, die uns Auskunft darüber geben, welche körpereigenen Proteine die Vermehrung und Ausbreitung der Viren hemmen“, erklären Prelli Bozzo und Laliberté.
Um zelluläre Gegenspieler von Viren systematisch zu identifizieren, werden Bibliotheken an vermehrungsfähigen HIV-Konstrukten hergestellt, die eine große Zahl unterschiedlicher sogenannter ‚Leit-RNAs‘ exprimieren. In Gegenwart des Cas9-Proteins, das eigentlich nur in Bakterien vorkommt, können diese ‚Leit-RNAs‘ spezifische zelluläre Gene inaktivieren. Virusvarianten, die Leit-RNAs produzieren, welche in der Lage sind, antivirale Gene auszuschalten, haben einen Selektionsvorteil. Denn sie eliminieren wirksame Immunfaktoren. Diejenigen Virusvarianten, die sich in Zellkultur am besten vermehren, verraten den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, welche zellulären Gene für die antivirale Kontrolle am wichtigsten sind. Diese zellulären Faktoren werden dann gezielt weiter untersucht und hinsichtlich ihres antiviralen Mechanismus und Wirkspektrums charakterisiert.
Perspektivisch hoffen Kirchhoff und seine Mitarbeitenden, durch die Entdeckung wichtiger Abwehrmechanismen die Ausbreitung und Entstehung viraler Zoonosen zukünftig besser verhindern zu können. „Wenn wir mehr über unsere angeborenen Abwehrmechanismen wissen, sollten wir besser in der Lage sein, diese gezielt zu stärken, um virale Krankheitserreger effektiver abzuwehren oder zu kontrollieren“, so Frank Kirchhoff. In den nächsten fünf Jahren arbeiten die Ulmer Forschenden nun daran, diesen innovativen und vielseitigen Ansatz in die Tat umzusetzen. Das langfristige Ziel: über die Aufdeckung antiviraler Abwehrmechanismen neue Ansätze für die Prävention und Therapie von Virus-Erkrankungen zu entwickeln.
Hintergrund ERC Advanced Grant
Der von der Europäischen Kommission gegründete Europäische Forschungsrat (englisch European Research Council, Abkürzung: ERC) ist die wichtigste europäische Fördereinrichtung zur Finanzierung von Grundlagenforschung. Zu den wichtigsten Förderprogrammen des ERC zählen sogenannte Starting, Consolidator, Advanced und Synergy Grants. Der ERC Advanced Grant richtet sich an erfahrene Spitzenforscher mit über 10 Jahren Forschungserfahrung, die in ihrem Forschungsgebiet bereits eine prägende Rolle spielen. Die Dauer der Förderung beträgt 5 Jahre, die Förderhöhe umfasst in der Regel bis 2,5 Millionen Euro.
Ende 2012 wurde Prof. Frank Kirchhoff bereits mit einem ERC Advanced Grant in Höhe von 2 Millionen Euro ausgezeichnet. Im Mittelpunkt stand dabei die Frage, welche Anpassungen an den Menschen es HI-Viren ermöglicht haben, die AIDS-Pandemie zu verursachen.
Weitere Informationen:
Prof. Dr. Frank Kirchhoff, Leiter des Instituts für Molekulare Virologie, Universitätsklinikum Ulm, Tel.: 0731 / 500 65150, E-Mail: frank.kirchhoff@uni-ulm.de