Arbeitsgruppe Autonomie, Zwang und aggressives Verhalten

Leitung: Prof. Dr. Tilman Steinert

 

Zwangsmaßnahmen und der Versuch, auf sie zu verzichten, sind das älteste Thema psychiatrischer Institutionen. Mit den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts von 2011 und den seitdem erfolgten Änderungen des Betreuungsrechts und der Psychisch Kranken-Gesetze der Bundesländer wurde die Patientenautonomie erheblich gestärkt und die Legitimität von Zwangsmaßnahmen wird zunehmend hinterfragt. 2017 wurde die Pflicht des Arztes, die Patientenautonomie zu respektieren, an zentraler Stelle in das Genfer Gelöbnis (Declaration of Geneva) eingefügt. Ein weiterer Diskussionsstrang entstand aus der UN-Behindertenrechtskonvention und ihren Kommentierungen, die Zwangsmaßnahmen ebenfalls sehr grundsätzlich problematisieren. Auf der anderen Seite wird von psychisch kranken Menschen ausgehendes aggressives Verhalten immer wieder als erhebliches gesellschaftliches Problem betrachtet. Innerhalb psychiatrischer Einrichtungen stellt es den gravierendsten Risikofaktor für die Gesundheit und Sicherheit der Beschäftigten dar. Seit vielen Jahren betreiben wir empirische Forschung in diesem Themenkomplex in landesweiten, bundesweiten und europäischen Kooperationen und sind mit der Entwicklung von Leitlinien beschäftigt.

 

Laufende Projekte

Frank Eisele, Erich Flammer, Tilman Steinert


Hintergrund: In einer Metaanalyse internationaler Studien wurde festgestellt, dass 17 % der in psychiatrische Kliniken eingewiesenen Patienten gewalttätiges Verhalten gegenüber anderen gezeigt haben. Die Daten aus Studien in Deutschland waren bis vor einigen Jahren deutlich niedriger. Studien, die nur einzelne Krankenhäuser untersuchten, sowie die Qualität der Daten selbst haben jedoch Zweifel an der Gültigkeit dieser Ergebnisse aufkommen lassen.
Forschungsfragestellung: Ist es tatsächlich zu einer Zunahme von Gewalttaten in deutschen psychiatrischen Einrichtungen gekommen?


Methode: In einer Gruppe von 10 Krankenhäusern, die etwa die Hälfte der Bevölkerung des Bundeslandes Baden-Württemberg mit 11 Millionen Einwohnern versorgen, wurde die Staff Observation Aggression Scale-Revised (SOAS-R) als Teil der Routinedokumentation in die elektronischen Patientenakten aufgenommen. Für das Jahr 2019 liegt ein vollständiger Datensatz vor. Für ein Krankenhaus liegen die Daten seit 2006 vor. Aufgrund von Zweifeln an der vollständigen Erfassung der selbstgesteuerten Aggression wurde die Analyse auf Aggressionen gegen andere und gegen Gegenstände beschränkt.


Ergebnisse: Die Inzidenz aggressiver Übergriffe ist etwa halb so hoch wie die international gemeldete, was wahrscheinlich auf eine verzerrte Stichprobenauswahl in früheren Studien und eine relativ hohe Anzahl von Krankenhausbetten in Deutschland zurückzuführen ist. Die verfügbaren Daten deuten auf einen Anstieg der Gewaltvorfälle in den letzten zehn Jahren hin; es ist jedoch unklar, inwieweit dies auf eine verstärkte Berichterstattung zurückzuführen ist. Die Ergebnisse wurden in einer Fachzeitschrift publiziert.

Nancy Thilo, Erich Flammer, Sophie Hirsch, Tilman Steinert


Hintergrund: Im psychiatrischen Wohnbereich gibt es bis dato kaum Untersuchungen, obwohl der komplementäre Sektor eine tiefergehende Betrachtung des Lebens mit regelmäßiger Einnahme von Medikamenten ermöglicht. Deshalb wurden 48 Bewohner*innen mit schizophrenen und bipolaren Störungen, die freiwillig im psychiatrischen Wohnbereich leben, rekrutiert und zu ihrem subjektiven Zwangserleben bei der Medikamenteneinnahme befragt. Die Studie ergänzt Befragungen aus dem Vorgängerprojekt, welches Interviews mit 92 stationär freiwilligen und untergebrachten Patient*innen auf allgemeinpsychiatrischen Stationen umfasst.


Forschungsfragestellung: Es soll eruiert werden, ob und inwieweit Bewohner*innen in Einrichtungen des ambulanten und stationären Wohnens in den Landkreisen Ravensburg und Bodensee im Vergleich zu stationär behandelten Patient*innen Zwang bei der täglichen antipsychotischen Medikamenteneinnahme empfinden und welche Faktoren zu einem höheren Gefühl an Zwang führen können.


Methode: Eine Adaption der Admission Experience Survey (aAES) und zwei visuelle Analogskalen wurden zur Erhebung des subjektiven Zwangserlebens eingesetzt. Der Fragebogen zur Krankheitseinsicht (FKE-10), die Drug Attitude Inventory (DAI-10) und die Brief Psychiatric Rating Scale (BPRS-24) kamen zur Anwendung. Es wurden sowohl Unterschiede zwischen den Gruppen und Zusammenhänge mit dem Zwangserleben untersucht, als auch ein Prädiktionsmodell zum Herausstellen von möglichen Einflussfaktoren auf das Empfinden von Zwang berechnet.


Ethikvotum: Ethikkommission der Universität Ulm Nr. 397/18
Vorläufige Ergebnisse: Es erfolgte eine erste Publikation mit Ergebnissen zu Prädiktoren des subjektiven Zwangserleben mit den Daten aus dem stationären Bereich. Die Ergebnisse für den Vergleich von Wohnbereich und stationärem Bereich werden in Form einer Dissertation zeitnah veröffentlicht.

 

Maximilian Riepenhausen, Sophie Hirsch, Tilman Steinert


Hintergrund: Die Inzidenz von Zwangsmaßnahmen in psychiatrischen Kliniken unterscheidet sich sowohl innerhalb eines Landes als auch zwischen den Ländern erheblich, ohne dass dies ausreichend durch erklärbar wäre. Dies konnte auch in einer internationalen Literaturübersicht 2010 gezeigt werden.
Forschungsfragestellung: Wie verhält sich die Inzidenz von Fixierungs- und Isolierungsmaßnahmen in psychiatrischen Krankenhäusern im internationalen Vergleich und verändert sich die Heterogenität über die Zeit?
Methode: Es erfolgte eine systematische Suche in zwei Datenbanken: Medline und CINAHL. Zusätzlich wurde nach grauer Literatur gesucht.
Ethikvotum: Ein Ethikvotum ist nicht erforderlich, da nicht an Menschen geforscht und keine Daten am Patienten erhoben werden.
Geplante Schritte: Qualitätsprüfung der Studien und Extraktion der Daten.
Vorläufige Ergebnisse: Es werden voraussichtlich 21 Artikel und 2 nationale Register eingeschlossen. Weitere Ergebnisse liegen noch nicht vor, da die Auswertung der Daten noch nicht abgeschlossen ist.

 

Erich Flammer, Sophie Hirsch, Tilman Steinert


Hintergrund: Am 23. Juli 2018 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass eine mechanische Fixierung bei psychiatrischen Patient*innen, die länger als 30 Minuten dauert, einer sofortigen richterlichen Entscheidung bedarf. Am selben Tag veröffentlichte die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie ihre Leitlinie zur Prävention von Zwang und Gewalt. Das seit 2015 verfügbare Register für Zwangs- und Unterbringungsmaßnahmen in Baden-Württemberg, das alle 32 zur Unterbringung von Patient*innen ermächtigte Krankenhäuser umfasst, ermöglichte es, die Wirkung der gesetzlichen Änderung zu evaluieren, die als die bisher stärkste Intervention zur Reduzierung von Zwang in Deutschland angesehen werden kann.


Forschungsfragestellung: Gibt es Belege für eine signifikante Veränderung bei der Anwendung von Zwangsmaßnahmen nach der Einführung des Richtervorbehalts i) bei der Gesamtzahl der Maßnahmen und dem Prozentsatz der betroffenen Patient*innen, ii) bei der Art der angewendeten Maßnahmen und iii) bei ihrer jeweiligen Dauer?
Methode: Wir analysierten den mittleren Prozentsatz der Patient*innen, die Zwangsmaßnahmen unterworfen wurden, und die mittlere kumulative Dauer dieser Interventionen in ICD-10-Diagnosegruppen in psychiatrischen Krankenhäusern von 2017 im Vergleich zu 2019


Ethikvotum: Gemäß der Ethikkommission der Universität Ulm ist ein Ethikvotum für Studien, in denen anonymisierte Daten analysiert werden, nicht erforderlich.
Ergebnisse: Der Prozentsatz der Patien*innen, die irgendeiner Zwangsmaßnahme unterworfen waren, nahm von 2017 auf 2019 signifikant ab. Der Prozentsatz der Patient*innen, die fixiert wurden nahm signifikant ab, während der Prozentsatz der Patient*innen, die isoliert wurden, signifikant zunahm. Der Median der kumulativen Zwangsmaßnahmendauer pro betroffenem Fall nahm signifikant ab. Die Ergebnisse wurden in einer Fachzeitschrift publiziert.

 

Tilman Steinert (Principal Investigator), Sophie Hirsch, Dorothea Sauter, Susanne Jaeger, Marie Kampmann; Lieselotte Mahler, Celline Cole, Julia Junghans, Angelika Vandamme (Charité Berlin); Andreas Bechdolf, Johanna Baumgardt, Felix Bühling-Schindowski (St. Urban, Berlin), Rainer Muche (Biometrie Ulm)


Hintergrund: 2018 wurde zeitgleich mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu Fixierungen die S3 Leitlinie „Vermeidung von Zwang: Prävention und Therapie aggressiven Verhaltens“ unter Federführung von Tilman Steinert publiziert. Empfehlungen zur Implementierung auf psychiatrischen Stationen mit einem 12-Punkte-Programm wurden Ende 2018 von der Fachgesellschaft DGPPN verabschiedet. Ziel des Vorhabens ist die Implementierung und Evaluation auf 52 psychiatrischen Stationen, die unfreiwillig behandelte Patienten versorgen.
Forschungsfragestellung: Können Zwangsmaßnahmen auf psychiatrischen Stationen mittels einer operationalisierten Implementierung der S3 Leitlinie „Verhinderung von Zwang: Prävention und Therapie aggressiven Verhaltens bei Erwachsenen (2018)“ relevant reduziert werden?
Methode: Es wird eine multizentrische 1:1 zufalls-gematchte verbundene Studie mit Wartekontrolldesign für 52 Stationen durchgeführt. Die 26 Kontrollstationen erhalten die Intervention ein Jahr später. Die Evaluation beinhaltet auf Organisationsebene den Stand der Leitlinienerfüllung zu den verschiedenen Messzeitpunkten mittels einer zu diesem Zweck entwickelten Skala und auf der Ebene der Patientenversorgung die kumulierte Häufigkeit und Dauer von Zwangsmaßnahmen und die Häufigkeit aggressiver Übergriffe. Zahlreiche Kontrollvariablen wie Stationsgröße, Personalbesetzung etc. werden berücksichtigt. Begleitend werden Förderfaktoren und Implementierungshindernisse in einer qualitativen Studie erfasst und evaluiert.
Ethikvotum: Positives Ethikvotum des Ethikkomitees der Universität Ulm (55/19) vom 04.09.2019.
Geplante Schritte: Implementierung auf den Wartegruppenstationen mit einem Einführungsworkshop. Auswertung der Daten der Interventionsstationen im Vergleich zu den Kontrollstationen. Fortsetzung der begleitenden qualitativen Interviews. Publikation der Baselinedaten und des RCTs. Im Verlauf Auswertung des Vorher-Nachher-Vergleichs der Wartegruppenstationen und des Follow-ups für die Interventionsstationen.
Vorläufige Ergebnisse: Die Pilotstudie auf sechs psychiatrischen Kliniken wurde publiziert. Sowohl die zwölf Interventionen als auch die Skala zur Messung des Implementierungsgrades sind in der Praxis gut anwendbar. Die Implementierung und die Workshops auf den Interventionsstationen sind abgeschlossen, die Workshops auf den Wartegruppenstationen haben begonnen.

 

 

Erich Flammer, Tilman Steinert


Hintergrund: Gemäß dem Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten (Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz – PsychKHG) nach Beschluss des baden-württembergischen Landtags vom 12. November 2014 sind gemäß §10 (Ombudsstelle auf Landesebene, Melderegister) Unterbringungsmaßnahmen und Zwangsmaßnahmen innerhalb anerkannter Einrichtungen nach § 14 in verschlüsselter Form zentral zu erfassen. Dazu wurde ein Online-Portal implementiert und relevanter Indikatoren für Benchmarkingprozesse zur Reduktion von Zwangsmaßnahmen entwickelt.
Forschungsfragestellung: (1) Wie groß ist der Anteil der von Zwangsmaßnahmen betroffenen Behandlungsfälle (2) Wie ist die durchschnittliche Dauer einer Zwangsmaßnahme? (3) Wie ist die kumulative Dauer der Zwangsmaßnahmen pro betroffenen Fall? (4) Wie groß ist der Anteil von Zwangsmaßnahmen an der Aufenthaltsdauer? (5) Wie groß ist der Anteil von Unterbringungsmaßnahmen nach Betreuungsrecht, nach PsychKHG und wie groß ist der Anteil fürsorglicher Zurückhaltungen? (6) Wie groß ist der Anteil von Behandlungsfällen mit Zwangsmaßnahme gemessen am Anteil Behandlungsfälle mit Unterbringungsmaßnahme?
Methode: Deskriptive Auswertung der Daten nach Klinik, Diagnose, Rechtsgrundlage des stationären Aufenthalts.
Ethikvotum: Gemäß der Ethikkommission der Universität Ulm ist ein Ethikvotum für Studien, in denen anonymisierte Daten analysiert werden, nicht erforderlich.
Geplante Schritte: Fortlaufende jährliche Auswertungen.

 

Erich Flammer, Raoul Borbé, Anna-Carina Bedenk (Doktorandin Universität Ulm), Tilman Steinert


Hintergrund: Die UN-BRK, 2008 vom Deutschen Bundestag ratifiziert, legt ein soziales Modell von Behinderung zugrunde und fordert eine grundsätzliche Abkehr vom stellvertretenden Handeln für den Betroffenen hin zur Unterstützung der eigenständigen Handlungsfähigkeit. Grundlegende Prinzipien sind dabei Respektierung der individuellen Freiheit und Autonomie, Nicht-Diskriminierung, Zugänglichkeit und Inklusion.
Forschungsfragestellung: Anhand eines Fragebogens soll untersucht werden, inwieweit die UN-Konvention im Alltag von Menschen mit einer psychischen Erkrankung als umgesetzt erlebt wird.
Methode: Mittels eines eigens entwickelten Fragebogens ("Weissenauer Fragebogen zu Menschenrechte und Teilhabe", "WFB-MuT") werden 125 Klientinnen und Klienten von gemeindepsychiatrischen Verbünden und 125 Patientinnen und Patient*innen von Psychiatrischen Institutsambulanzen befragt. Die Items des WFB-MuT wurden anhand relevanter Artikel der UN-Konvention generiert. Der Fragebogen erhebt mit 136 Fragen zu 18 Themenbereichen sowohl Erfahrungen im psychiatrischen Setting (stationär und ambulant) als auch Erfahrungen im Privatleben außerhalb der Psychiatrie und befragt.
Ethikvotum: Ethikkommission Universität Ulm 16/2015.
Geplante Schritte: Die Befragung Klienten der gemeindepsychiatrischen Verbünde der Landkreise Ravensburg und Bodenseekreis ist abgeschlossen. Die Befragung der Patient*innen in den Psychiatrischen Institutsambulanzen steht kurz vor ihrem Abschluss. Darüber hinaus ist für die Zukunft eine Befragung von Menschen ohne psychische Erkrankung aber mit ähnlichem Sozialstatus wie die Teilnehmer aus Institutsambulanzen und gemeindepsychiatrischen Verbünden geplant.