Psychosomatische Anthropologie

Psychosomatische Auffassungen des Erkrankens und Genesens speisen sich aus medizinischen und philosophischen Quellen des abendländischen Denkens, welchen größter Respekt gebührt. Es ist ein Allgemeinplatz geworden, dass der Dualismus von Körper und Geist in der dichotomen Ontologie von Descartes ihren Ursprung nimmt, der in seinem Versuch des Substanzdualismus (res extensa vs. res cogitans) lediglich dem tradierten implizierten metaphysischen Dualismus zwischen dem weltlich-materiellen und dem göttlich-immateriellen eine ontologische Form gibt. Er gründet damit die systematische Herangehensweise an das Leib-Seele-Problem, dem er eine interaktionistische Form gibt, die bis heute durch Epiphänomenalismus, psychophysischen Parallelismus und neutralen Monismus ergänzt wurde. Der ontologische Dualismus ging mit der wissenschaftlichen Revolution des 17. Jahrhunderts in eine epistemologische Dichotomie über, die heute in der Tradition der Natur- und Geisteswissenschaften mit ihren jeweiligen Forschungsobjekten und ihrer jeweiligen Wissenschaftstheorie (vereinfachend: Messung und Experiment vs. Hermeneutik und Erzählung) ihre Daseinsberechtigung zementiert. Die abendländische Kultur steht vor dem Siegeszug der platonischen Metaphysik gegenüber der aristotelischen, deren Prinzipien der Seinserhellung (causae materialis, formalis, efficiens und finalis) die ontologische Dichotomie in eine Aspektdichotomie (Fuchs 2008) umwandeln ließe. Diese Dichotomie ist fest verankert in unserem westlichen Denken (vgl. Diagramm 1) und spiegelt sich in der sozialen Tragweite der Differenzierung zwischen seelischen und körperlichen Krankheiten, aber auch – nicht zuletzt berufspolitisch ­– zwischen Psychiatrie und Psychotherapie, was die Psychosomatik versucht vereinend zu überwinden – zumindest im Menschenbild, wenn nicht in der grundlegenden, gemeinsamen medizinischen und philosophischen Anthropologie.

Man könnte spekulieren, ob die deutsche Tradition der psychosomatischen Medizin in der Position zur Psychiatrie ihren Ursprung in der deutschen Romantik mit den innbrünstig verteidigten Menschenbildern der damaligen Seelenkunde durch Psychiker und Somatiker ihren Anlauf nimmt. Erwähnenswert ist die Tatsache, dass die Bezeichnung „Psychosomatik“ vom Psychiker Heinroth geprägt wurde. Vermutlich liegen die Wurzeln eher in der implizierten Anthropologie, die sich seit der Aufklärung quer über alle Wissensgebiete verbreitete, wie eindrücklich aus den verschiedenen Versionen der Promotionsarbeit von Schiller ersichtlich wird (Schiller 1959). Bereits seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts findet die Herausarbeitung von Sozialfaktoren in ihrer Wechselbeziehung zu Gesundheit und Krankheit in Medizin und Psychiatrie einen festen Platz und mit Freud, Kierkegaard und Nietzsche wird eine neue Sicht der performativen seelischen Kräfte und der menschlichen Daseinsordnung entworfen, die bis in die heutige Postmoderne wirken. Es war eine Frage der Reifung dieser Saat bis die deutsche Innere Medizin im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts durch die „Einführung des Subjektes in die Medizin“ (v. Weizsäcker 1950) eine „Psychosomatische Medizin“ entwickelte, die sowohl eine medizinische Anthropologie als auch eine pathische Ethik gründete. Die bis heute entwickelten Modelle zeigen eine starke kybernetische Struktur, in der die „Umwelt“ eine zentrale Bedeutung innehat und sich auf alle Krankheiten bzw. auf den Daseinsmodus des Krankseins bezieht, während sich die Psychoanalyse über Jahrzehnte auf die Psychomatosen als somatischen Ausdruck von klar definierten intrapsychischen Konflikten bezog. Das Profil der wissenschaftlichen Psychosomatik ­­– die von den Botschaften der Propheten einer „ganzheitlichen Gesundheit“ Abstand nimmt ­– entwickelt sich bis heute im Austausch mit und in Abgrenzung zur somatischen Medizin, Psychoanalyse, Psychotherapie und Psychiatrie, zeigt dabei eine doppelte Richtung, nämlich eine psychosomatische im engeren Sinne (Angststörungen, Zwangsstörungen, posttraumatische Störungen, Anpassungsstörungen, somatoforme Störungen, depressive Erkrankungen etc.) und eine somatopsychische Richtung (seelische Auswirkung, verhaltensmedizinische Partikularitäten und klinisch relevante abweichende Verarbeitung bei akuten oder chronischen körperlichen Erkrankungen, beispielsweise in der Schmerzbehandlung oder in der Onkologie). Psychosomatische Medizin stützt sich auf beiden Säulen, jedoch gibt es in der Praxis eine Verlagerung der psychosomatischen Richtung in den stationären Bereich bzw. in die Regelpsychotherapie und der somatopsychischen Richtung in die Konsiliarpsychosomatik.

Quellen

  • Valdes-Stauber J: Gemeindepsychosomatik. In: Kunze H (Hrsg): Psychiatrische Versorgung – Wohin führt der Weg?, Kapitel 4. Stuttgart: Kohlhammer, 2015 (In Druck)
  • Valdes-Stauber J. Ist heute die Dichotomie Verstehen-Erklären noch zeitgemäß? DGPPN-Kongress 2014, Berlin

 

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